• Interview mit Kara Johnstad - Vom Sonderling zur Stimmgröße | Carina Riethmüller www.beingcarried.com

    Sobald in Berlin der Name "Kara Johnstad" fällt, stellt sich bei vielen ein zustimmendes Kopfnicken ein: Vor allem in der Jazz- und Weltmusikszene ist die amerikanische Singer-Songwriterin mit der großen Stimme ein offener Geheimtipp. Auf der Bühne entpuppt sie sich als wahres Energiebündel, das ihr Publikum tief berührt und mitreißt; als erfolgreicher Vocal Coach unterstützt sie mit ihrem Coaching-Programm Voice Your Essence andere Menschen dabei, ihre wahre Stimme zu finden und sich künstlerisch weiterzuentwickeln.

    Dem nicht genug: Vor etwa einem Jahr gründete Kara gemeinsam mit der Yoga-Lehrerin Sita Mennon ein Zentrum für Yoga und Stimmarbeit, das Yoga Voice Berlin in Berlin-Zehlendorf. In diesem Rahmen baut sie gerade einen Chor auf. Parallel dazu arbeitet sie an ihrem ersten Orchesteralbum in Rom. – Wow, denkt sich der stille Beobachter, was stellt die Frau doch alles auf die Beine!

    Gerade für Hochsensible ist Karas Geschichte sehr inspirierend und motivierend, denn in der gestandenen Powerfrau steckt auch eine introvertierte, hochsensible Künstlerin. Ich wollte mehr darüber erfahren, wie Kara gelernt hat, diese vielen Persönlichkeitsaspekte zu integrieren und miteinander ins Gleichgewicht zu bringen, sodass ihr das erfüllende Leben gelingen kann, das sie heute führt.

    Ich treffe sie zum Gespräch in ihrer herrlichen Berliner Altbauwohnung. Hier lebt und arbeitet die Sängerin, Songschreiberin und Visionärin. Es ist immer wieder etwas besonderes für mich, diese kleine Insel inmitten der Berliner Großstadt zu betreten: Die Räume sind hoch, groß und weit. Der Fußboden ist mit glänzendem Dielenfußboden ausgelegt, die Wände sind weiß, die Einrichtung klar, puristisch und stilvoll gehalten; alles hat seinen Platz, nichts lenkt den Geist ab. 

    Auf direktem Wege begeben wir uns in die "Karasutra Lounge": Karas Arbeits-, Schreib-, Sing- und Kreativraum, ein lichtdurchflutetes, halbrundes Turmzimmer. Dort hat Karas Flügel Mr. Steinway seinen Platz; still und anmutig wie ein alter Gentleman steht er dort und trägt eine steinerne Frauenbüste. Daneben sind Blumen und Kerzen auf einem kleinen Tisch drapiert. In der gemütlichen Sitzecke nehmen wir Platz. Frisch aufgegossener Tee duftet durch den Raum. Ich habe zur Feier des Tages feine Schokolade mit Früchten mitgebracht.

    Es ist die perfekte Atmosphäre, um über Kara's Abenteuer und Erkenntnisse auf ihrem Weg als hochsensibler, hochkreativer Sonderling zu sprechen, der die Welt verändern will.

  • Die hochsensiblen Menschen sind die rohen Nervenenden unserer Gesellschaft.

  • Kara, ich kenne dich als eine Frau, die ihre Stärke, ihre Sensibilität und ihre Verletzlichkeit sehr gut im Gleichgewicht halten kann. Ich habe allerdings das Gefühl, das war nicht immer so. Wenn ich mir dich als Kind vorstelle, fühle ich immer ein empfindsames, scheues Vögelchen – das ist so ganz anders als das, wie du heute wahrgenommen wirst. Wie ist das aus deiner Perspektive? War es ein langer Weg, um dorthin zu kommen, wo du heute bist?

  • Ja, es war eine lange Reise; es war ein langer Weg – und ein schöner Weg. Aber als Kind war ich gar nicht so sehr ein Vogel – ich denke, ich war wohl eher eine kleine Krabbe. Ich habe fast nie geredet. Ich war unglaublich still. Und ich war sehr, sehr schüchtern. und ich habe viele Bücher gelesen und war sehr zurückgezogen. Und immer, wenn ich meinen Mund aufgemacht habe, um zu reden, waren meine Worte nicht sehr logisch. Die Menschen erwarteten von mir, dass ich mit ihnen Gespräche führte, die vielmehr Diskussionen waren, und ich habe eher poetische Momente wahrgenommen. Meine Wahrheit war immer, dass... eigentlich ähnlich wie ich jetzt bin, es ist nur so, dass ich heute dazu in der Lage bin, in meiner Wahrheit zu stehen und zu meinem Weg als Singer-Songwriterin und Dichterin und Visionärin zu stehen, dazu zu stehen, dass ich sehr sensibel bin, und anders denke und fühle, und dass das okay ist. 
     
    Aber als ich ein Kind war, war das anders. Da sagte zum Beispiel jemand zu mir: "Warum hast du vergessen, deine Mathe-Bücher mit in die Schule zu nehmen?" - "Das war so: Ich ging hinaus und sah, dass der Flieder blüht, also bin ich stehengeblieben, um daran zu riechen. Dann lief ich schnell zurück ins Haus, um den Flieder in eine Vase zu stellen, damit du, Mama, auch daran riechen kannst, weil er so schön ist. Dann kam der Bus und ich rannte hinaus, um ihn zu erwischen und habe meine Bücher dabei vergessen." – "Kara Elizabeth Johnstad, das ist nicht in Ordnung."
     
    Es war für mich sehr erstaunlich: Die Reise durch eine Kindheit, in der ich mich sehr missverstanden fühlte; ich bin mir sicher, ich wurde auf eine Art sehr geliebt, und dennoch fühlte ich mich tief missverstanden. Und ich denke, erst in meinen späten Zwanzigern begann ich, mich selbst besser zu verstehen. Es verging eine sehr lange Zeit, in der ich sehr kämpfen musste, weil ich mich so sehr als Sonderling und Außenseiter fühlte. Meine Augen standen ein bisschen schief und ich trug eine wirklich seltsame Brille. Ich selbst fühlte mich wie eine Prinzessin, aber [auf der Bühne, Anm. CR] wurde ich immer nur als "die gute Freundin" besetzt, die Charakterrolle eben. Jedes Mal habe ich ihnen erklärt: "Ich will die Prinzessin sein, die den Prinzen trifft!", und sie entgegneten mir nur: "Nein! Du bist die Hexe mit dem grünen und schwarzen Gesicht, die auf einem Besen reiten darf!"
  • In diesen frühen Jahren musste ich mich entscheiden: Entweder ich würde ein Opfer sein und mich in die Depression fallen lassen, oder ich würde lernen, Sprachen zu sprechen, von denen ich wirklich etwas verstand, wozu natürlich Musik, Singen und Schreiben gehörten.

  • Ich kann mich damit total gut damit identifizieren. Weißt du, was mir in dem Alter passiert ist? Als ich 15 war, haben wir in der Schule "Romeo und Julia" gelesen. Ich wollte so gern die Julia sein. Ich kannte den Text der Rolle auswendig. Aber mein Lehrer fand, ich sei eine unglaublich gute Amme. Also musste ich immer die Amme spielen. Das hat mich sehr geärgert. Ich kann dich also gut verstehen. 

    (Wir lachen.)

  • Ja, siehst du. Im Alter von 20 Jahren hat sich bei mir dann etwas verändert. Ich bin von Amerika nach Europa gezogen, nach Berlin, und das war eine ganz wichtige, neue Erfahrung für mich. Zuvor hatte ich an der Universität [in Amerika, Anm. CR] Schauspiel und Theater studiert. Bis dato war ich es also gewohnt gewesen, auf Theaterbühnen zu stehen, auf denen ich einen sicheren, dunklen Platz hatte, wenn ich sang – es war dort sehr, sehr dunkel! Und ich hatte Regisseure, die mir Anleitungen gaben. Die meisten von ihnen waren zwar echte Mistkerle, aber das war mir im Grunde egal, denn ich hatte diesen Ort, an dem ich fühlen und sein konnte, und an dem mir dafür Beachtung geschenkt wurde. Je mehr es mir gelang, zu fühlen und Ich zu sein, desto mehr Applaus bekam ich.
  •  
    Wir Künstler sind wie Zirkusdarsteller: Die Menschen zahlen viel Geld, um uns dabei zuzusehen, wenn wir uns seelisch ausziehen und unser tiefstes Inneres entblößen. Wir tun das, weil wir nicht anders können, – so sind wir eben! – und sie machen sich danach wieder ungerührt davon. Wir, auf der anderen Seite, kehren in den normalen Alltag zurück und die Leute halten uns für verrückt, weil wir so offen und sensibel sind.
     
    Dann kam ich nach Deutschland. Mein Vater hatte hier zufällig eine Wohnung, darum bin ich hier gelandet. Damals war die Stadt [West-Berlin, Anm. CR] von einer Mauer umschlossen, wodurch sich eine ganz verrückte Qualität entwickelte, die man wohl nirgendwo sonst noch einmal findet. Ich hatte zu jener Zeit schon viel im Schauspiel- und Filmbereich gearbeitet, auch in New York City, aber erst in Berlin bekam ich das wirkliche Großstadtgefühl: Wir hatten die Oper und die Theater, wir hatten das Konservatorium für Musik, wir hatten diese Größe – und das, obwohl wir ja durch die Mauer eigentlich ein Dorf waren. Und jeder, der hier war, war verloren. Es war eine Peter Pan Welt. Das war es wirklich. Die meisten Hausfassaden waren nicht gestrichen; zum Heizen benutzten wir im Winter noch Kohle. Die Musikszene war sehr stark vertreten und alle Musiker verbrachten viel Zeit miteinander. 
     
    Die Menschen, die in West-Berlin lebten, waren echte Freiheitsdenker, sehr tiefe Seelen. Weil wir die Stadt wegen der Mauer nicht verlassen konnten, verbrachten wir wundervolle Nächte damit, zusammen Gitarre zu spielen, zu singen und zu schreiben. 
     
    Gleichzeitig konnte mich niemand richtig verstehen und auch ich verstand niemanden. Ich sprach zwar Deutsch, aber nicht sehr gut. Es war, als sei ich ins Exil gegangen. In diesen frühen Jahren musste ich mich entscheiden: Entweder ich würde ein Opfer sein und mich in die Depression fallen lassen, oder ich würde lernen, Sprachen zu sprechen, von denen ich wirklich etwas verstand, wozu natürlich Musik, Singen und Schreiben gehörten. 
     
    Als meine erste CD 1987 bei RCA erschien, dachten die Leute, ich sei völlig durchgedreht. Ich selbst  fühlte mich nicht durchgedreht. Viele kamen auf mich zu und fragten mich, wo ich die schrägen Klamotten her hätte. Die Wahrheit ist, ich hatte das alles selbst genäht, weil ich dachte, das sei witzig. Und so fügten sich meine sonderbaren Seiten zusammen und machten mich zu einer professionellen Künstlerin. Ich bekam sozusagen ein neues Etikett, das mich akzeptabel machte, zwar nicht im Alltag, aber immerhin zahlten die Menschen viel Geld dafür, die sonderbare, merkwürdige Musikerin auf der Bühne zu sehen. 
  • Listen to the interview in English 



  • Übersetzt vom Englischen ins Deutsche von Carina Riethmüller. Bannerfoto & Porträt von Carina: Christina Herwarth von Bittenfeld, Miafamilia Photography